Eine lokale Notiz zum Themenjahr „900 Jahre jüdische Geschichte in Thüringen“

Das Themenjahr wurde Anfang Oktober eingeläutet. Dabei soll nicht in erster Linie der jahrhundertelangen Ausgrenzung, Verfolgung und Pogromen gedacht werden, die im Holocaust ihren menschenverachtenden Höhepunkt erreichten. Stärker als bisher soll der Beitrag von Juden und Jüdinnen zum wirtschaftlichen und kulturellen Leben in der Thüringer Region bewusst gemacht werden. Nun war Kahla nie ein besonderes Zentrum jüdischen Lebens. Was es da angesichts spärlicher Quellen über die Jahrhunderte zu vermelden gibt, kann in dem zweiteiligen Artikel in den „Kahlaer Nachrichten“ vom 11. und 25. April 2013 nachgelesen werden.

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bereicherten zwei jüdische Familien das erstaunlich reichhaltige Geschäftsleben in unserer Stadt. In fast jedem Haus der Innenstadt wurde etwas zum Kauf angeboten. In einer Notiz im „Kahlaer Tageblatt“ vom 30. September 1900  ist bei rund 5300 Einwohnern von zirka 160 Ladenbesitzern die Rede. Ab 1903 gehörten dazu Adolf  Jacobsthal mit seinem „Volksbazar“ und das Konfektionsgeschäft des Ehepaares Hermann und Flora Cohn. Über das Schicksal dieser beiden Familien unter den deutschen Faschisten gibt eine 2017 in 3. Auflage erschienene Broschüre Auskunft. Darin musste ich konstatieren (S. 15), dass wir insbesondere von den vorausgegangenen Lebensumständen der Familie Cohn/Tittel nur sehr wenig wissen. Zu den Unklarheiten gehörte folgender Umstand: Bekannt war, dass die Cohns ihr Geschäft im Hause der heutigen Rudolf-Breitscheid-Straße 16 betrieben. Auf allen historischen Fotos, die wir von dem Haus haben, steht über dem Geschäft jedoch ein Firmenschild mit dem Namen „S. Weiss“ (Abb. 1).

Abb. 1.

Eine mögliche Erklärung war, dass die Cohns das Geschäft eines Kahlaer Vorgängers übernommen hatten und – aus welchen Gründen auch immer – es nicht für nötig hielten, das alte Firmenschild zu entfernen. Diese Erklärung stand jedoch insofern auf wackligen Füßen, als es laut dem ältesten mir zugänglichen Einwohnerverzeichnis von 1905 keinen Einwohner dieses Namens in der Stadt gab. Nun kann diese Unklarheit durch einen zufälligen Fund bei Recherchen zu einem neuen Projekt beseitigt werden.

Tatsächlich wurde das Geschäft von S. Weiss erst Anfang April 1903 gegründet (Abb. 2). Näheres erfahren wir aus dem beim Amtsgericht Kahla geführten Handelsregister. Danach handelte es sich bei dem Laden in Kahla um eine Zweigniederlassung eines Siegfried Weiß aus Köthen, der dort auch sein Hauptgeschäft hatte.

Abb. 2, Kahlaer Nachrichten, 04. April 1903.

Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit haben die Cohns von Anfang an dieses Geschäft im Auftrag des Köthener Inhabers geführt. Denn sie wohnten, wie die Geburtsurkunde ihrer Tochter Erna vom 19. Dezember 1903 nahe legt, zu diesem Zeitpunkt bereits in Kahla. Auf die jüdische Geschäftsführung von Anfang an deutet auch die Verlegung der Eröffnung vom ursprünglich 4. April, einem Sonnabend (Sabbat), auf den 6. April hin. Ebenfalls nach dem Handelsregister ist die Zweigniederlassung im Februar 1904 „als ein selbständiges Geschäft auf den Kaufmann Hermann Cohn hier übergegangen. Dieser führt die bisherige Firma ‚S. Weiß‘ weiter.“ (Kahlaer Tageblatt, 12. 2. 1904.) Das Geschäft hatte also den Besitzer gewechselt, den Firmennamen aber nicht geändert. Damit erklärt sich die Beibehaltung des Firmenschildes in den nachfolgenden Jahren. Und auch in den Annoncen nach der Übernahme des Geschäfts vermieden die Cohns, sich als Inhaber erkennen zu geben, wie z. B. ein Inserat im „Kahlaer Tageblatt“ vom 11. September 1904 zeigt (Abb. 3).

Abb. 3.

Über die Gründe für diese Zurückhaltung kann nun wiederum nur gemutmaßt werden. Möglicherweise glaubten die Cohns, dass ihr sehr typischer jüdischer Name dem Geschäft nicht förderlich sei. Allerdings dürfte sich in dem kleinstädtischen Milieu sehr schnell herumgesprochen haben, wer nun Besitzer der Firma war.

Blieb die Frage, wieso ein Geschäftsmann aus Köthen ausgerechnet in Kahla eine Filiale eröffnete, die von einem jüdischen Ehepaar geführt wurde. Das erschließt sich nun aus einer Antwort vom Köthener Stadtarchiv (Frau Knof, Herr Samarkin) auf eine entsprechende Anfrage. Von dort wurde meine Vermutung bestätigt, dass auch Siegfried Weiß jüdischen Glaubens war. Bis 1911 war er mit der Jüdin Ida Weiß, geb. Hirschfeld, verheiratet. Da auch Flora Cohn eine gebürtige Hirschfeld war, lag es auf der Hand anzunehmen, dass es sich bei den beiden Frauen um nahe Verwandte handelte. Das wurde nun ebenfalls von Köthen bestätigt. Flora und Ida Hirschfeld waren zwei von fünf Töchtern des Ehepaares Siegmund und Hedwig Hirschfeld. Der verwunderliche Umstand, dass ein Köthener Geschäftsmann in Kahla eine Zweigniederlassung eröffnete, hatte also eine jüdische familiäre Grundlage. Über den weiteren Lebensweg von Siegfried Weiß  nach der Scheidung im Jahre 1911 ist in Köthen nichts bekannt. Ida Weiß wurde, wie ihre Schwester Flora Cohn, in Theresienstadt ermordet. Ihr ist in Magdeburg ein Stolperstein gewidmet.

Die engmaschige Durchsicht des „Kahlaer Tageblatts“ von 1903 liefert zugleich den sicheren Beleg dafür, dass sich die Ehepaare Cohn und Jacobsthal fast gleichzeitig 1903 in Kahla niedergelassen haben. Denn ebenfalls noch im April 1903 kündigte Adolf Jacobsthal die Eröffnung seines „Volksbazars“ an (Abb. 4), die dann am 22. Mai erfolgte. Es wäre ein großer Zufall, wenn diese gleichzeitige Ansiedlung der beiden einzigen jüdischen Familien in der Stadt ohne Absprache zwischen ihnen erfolgt wäre. Belege dafür, wie auch für eine engere Verbindung der beiden Familien während ihrer Kahlaer Jahre sind mir jedoch nicht bekannt.

Abb. 4, Kahlaer Tageblatt, 28. April 1903.

Während viele der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kahla bestehenden Verkaufsstellen nur sehr kurzlebig waren bzw. häufig den Besitzer wechselten, waren die beiden jüdischen Läden eine langjährige feste Größe im Kahlaer Geschäftsleben. Erst die Nazis entzogen den beiden Familien zunächst die Lebensgrundlagen, um dann einen Teil von ihnen zu ermorden. In der erwähnten Broschüre ist dieser ungeheure Vorgang, der auf keinen nennenswerten Widerstand in der Kahlaer Einwohnerschaft traf, im Einzelnen nachzulesen. Ohne Zweifel hätte offener Widerstand zu diesem Zeitpunkt die Widerständler in größte lebensbedrohliche Schwierigkeiten gebracht. Aber auch den völkischen, rassistischen und nationalistischen Anfängen war hier wie überall in Deutschland nicht energisch entgegengetreten worden.

Peer Kösling

Dieser Beitrag erschien zuerst in den Kahlaer Nachrichten vom 05.11.2020. Wir danken Herrn Kösling für die freundliche Zurverfügungstellung des Artikels.